Samstag, 17. November 2007

Wie mag er aussehen?

Wer hat zum Steuerbogenformular
den Text erfunden?
Ob der in jenen Stunden,
da er dies Wunderwirr gebar,
wohl ganz – – – oder total – – – war?

Du liest den Text. Du sinnst. Du spinnst.
Du grinst – „Welch Rinds“ – Und du beginnst
wieder und wieder. – Eisigkalt
kommt die Vision dir „Heilanstalt“.

Für ihn? Für dich? – Dein Witz erblaßt.
Der Mann, der jenen Text verfaßt,
was mag er dünkeln oder wähnen?
Ahnt er denn nichts von Zeitverlust und Tränen?

Wir kommen nicht auf seine Spur.
Und er muß wohl so sein und bleiben.
Auf seinen Grabstein sollte man nur
den Text vom Steuerbogen schreiben.


Aus der Feder des Altmeisters mit hintergründigem Humor.

Joachim Ringelnatz
* 7. August 1883 in Wurzen bei Leipzig; † 17. November 1934 in Berlin, Geburtsname Hans Bötticher

Mehr über Joachim Ringelnatz finden Sie bei Wikipedia.

Heute ist der 73. Todestag. Das Gedicht kommt passend zum Antrag auf Lohnsteuerermäßigung oder demnächst zur Steuererklärung.

Mittwoch, 19. September 2007

Zwei Käfer auf der Mauer

Zwei Käfer auf der Mauer,
die Amsel auf der Lauer,
die Katze sieht's voll Wonne
und blinzelt in der Sonne,
zum Sprung duckt sie bereit,
der Abstand ist nicht weit.

Ein Windstoß wirft den Eimer um,
die Amsel kreischt und guckt recht dumm.
Ihr Instinkt sagt, hau ab Gefahr,
die Katze zuckt, sie nimmt's auch wahr.
Der Vogel in die Luft entschwirrt,
die Katz ist sauer und verwirrt.

Herbst

Draußen ist's kalt,
es herbstelt halt.
Das Jahr wird alt,
der Winter kommt bald.

Donnerstag, 21. Dezember 2006

Augen in der Großstadt

Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen:
dann zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Vielleicht dein Lebensglück...
vorbei, verweht, nie wieder.

Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast's gefunden,
nur für Sekunden...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück...
vorbei, verweht, nie wieder.

Du mußt auf deinem Gang
durch Städte wandern;
siehst einen Pulsschlag lang
den fremden Andern.
Es kann ein Feind sein,
es kann ein Freund sein,
es kann im Kampfe dein
Genosse sein.
Es sieht hinüber
und zieht vorüber...
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider -
Was war das? Von der großen Menschheit ein Stück!
Vorbei, verweht, nie wieder.

Kurt Tucholsky
Pseudonyme: Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger, Ignaz Wrobel
* 9. Januar 1890 in Berlin; † 21. Dezember 1935 in Göteborg

Einer der großen deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Lesen Sie mehr bei Gutenberg.Spiegel.de und bei Wikipedia.

Montag, 4. Dezember 2006

Seine Hände blieben wie blinde Vögel

Seine Hände blieben wie blinde
Vögel, die, um Sonne betrogen,
wenn die andern über die Wogen
zu den währenden Lenzen zogen,
in der leeren, entlaubten Linde
wehren müssen dem Winterwinde.

Auf seinen Wangen war die Scham
der Bräute, die über der Seele Schrecken
dunkle Purpurdecken
breiten dem Bräutigam.

Und in den Augen lag
Glanz von dem ersten Tag, -
aber weit über allem war
ragend das tragende Flügelpaar...


Rainer Maria Rilke
* 4. Dezember 1875 in Prag, Österreich-Ungarn; † 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz

Mit einer der gefühlvollsten Dichter im deutschen Sprachraum. Lesen Sie dazu mehr bei Wikipedia und Gutenberg.Spiegel.de.

Mittwoch, 29. November 2006

Schriftsteller

Es ist kein Autor so gering und klein,
Der nicht dächt etwas Rechts zu sein;
Und wär er noch so ein armer Wicht,
Geht er doch stolz und aufgericht't,
Daß man glaubt der leere Hut
Noch zu dem Kleinen gehören tut.
Auch kein Autor auf den andern baut;
Denn sei ein Paar noch so vertraut,
Darfst heut den einen heruntersetzen
Willst du den andern höher schätzen,
Und morgen, auf des zweiten Kösten,
Läßt sich der erste nennen den Besten.

Wilhelm Hauff
* 29. November 1802 Stuttgart; † 18. November 1827 Stuttgart

Lesen Sie noch mehr über diesen schwäbischen Dichter bei Gutenberg.Spiegel.de und bei Wikipedia.

Samstag, 18. November 2006

Bin einmal ein Narr gewesen

Bin einmal ein Narr gewesen,
Hab geträumet, kurz doch schwer;
Wollt in schönen Augen lesen,
Daß von Lieb was drinnen wär.

Selig von der Vahr bis Bremen
Schwatzt ich zu der Holden mein;
Muß mich wahrlich heut noch schämen,
Daß ich solch ein Narr konnt sein.

Und die Glut, die in mir brannte,
Barg ich unter heitrem Scherz.
Von dem lieben Schwabenlande
Sprach ich zu dem kalten Herz.

Wollte sie zur Heimat locken,
Wollte alles ihr gestehn,
Doch sie sprach ganz kalt vom Brocken,
Dort sei alles gar zu schön.

Meine Lieb, mein Herz, mein Schwaben
Sind für dich zu eng, zu klein,
Größer willst du alles haben,
Nun so mag dein Harz dich freun!

Fahre wohl, du kaltes Wesen,
Freier blick ich um mich her,
Bin einmal ein Narr gewesen,
Hab geträumet kurz, doch schwer.


Wilhlem Hauff
* 29. November 1802 Stuttgart; † 18. November 1827 in Stuttgart

Ein Meister schwäbischer Dichtkunst. Mehr dazu erfahren Sie bei Wikipedia und Gutenberg.Spiegel.de.

Freitag, 17. November 2006

Lampe und Spiegel

»Sie faule, verbummelte Schlampe,«
Sagte der Spiegel zur Lampe.
»Sie altes, schmieriges Scherbenstück,«
Gab die Lampe dem Spiegel zurück.
Der Spiegel in seiner Erbitterung
Bekam einen ganz gewaltigen Sprung.
Der zornigen Lampe verging die Puste.
Sie fauchte, rauchte, schwelte und ruste.
Das Stubenmädchen ließ beide in Ruhe,
Und doch: Ihr schob man die Schuld in die Schuhe.


Joachim Ringelnatz
* 7. August 1883 in Wurzen bei Leipzig; † 17. November 1934 in Berlin

bekannt für Spott und Humor. Lesen Sie dazu Wikipedia und Gutenberg.Spiegel.de.

Montag, 13. November 2006

Wintermorgen

Ein trüber Wintermorgen war's,
Als wollt' es gar nicht tagen,
Und eine dumpfe Glocke ward
Im Nebel angeschlagen.

Und als die dumpfe Glocke bald,
Die einzige, verklungen,
Da ward ein heisres Grabeslied,
Ein einz'ger Vers gesungen.

Es war ein armer, alter Mann,
Der lang gewankt am Stabe,
Trüb, klanglos, wie sein Lebensweg,
So war sein Weg zum Grabe.

Nun höret er in lichten Höhn
Der Engel Chöre singen
Und einen schönen, vollen Klang
Durch alle Welten schwingen.


Ludwig Uhland
* 26. April 1787 in Tübingen; † 13. November 1862 in Tübingen

Ein Altmeister schwäbischer Dichtkunst. Lesen Sie dazu Wikipedia und Gutenberg.Spiegel.de.

Samstag, 11. November 2006

Die Ordnung

Es hat der Blitz an' Esel derschlag'n,
Da hat si' a Distl g'freut,
Der hätt' mi' gfreßn, hat s' ihm denkt,
Jetz bin i' in Sicherheit.

Die Distl hat a Bübi 'köpft,
Da hat si' a Bliemi g'freut,
Hat gsagt, so a steche'di Nachbarschaft
Verwünsch' i' allzeit.

Dees Bliemi hat a Diendl 'brockt,
Da hat si' a Grasl g'freut,
Hat gsagt, die hätt' mi' schier d'erstickt
Mit ihrer Eitelkeit.

Dees Grasl hat a Bach verschwemmt,
Da hab'n si' d' Stoaner gfreut,
Habn gsagt, jetz segn ma do' aar amal
'N Himmi sei' Herrlikeit.

Ja Sakra! wann auf selli Weis'
Si' All's in Weg umgeht,
Was sagn s' denn, daß auf der Welt
Die größti Ordnung b'steht?

»Dees is ja d' Ordnung daß an jds
Dees mehreri will sey',
Und 's is aa guat, sunst schlafet ja
Die ganz' Camedi ei'.«


Franz Ritter von Kobell
* 19. Juli 1803 in München; † 11. November 1882 in München

Bayerisch, deftig, dieser Dichter. Lesen Sie mehr bei Wikipedia und bei Gutenberg.Spiegel.de.

Dienstag, 7. November 2006

Du ahnst es nicht

Mein Blick ruht gern auf dir,
Du Mädchenangesicht,
Weil du so lieblich bist
Und ahnst es nicht.

Wie in der Frühlingsluft
Das Veilchen Düfte haucht,
Ist in der Anmuth Duft
Dein Thun getaucht.

Du lächelst freundlich mir,
Du meiner Seele Licht -
Wie du so lieb mir bist -
Du ahnst es nicht.


Heinrich Seidel
* 25. Juni 1842 in Perlin, Mecklenburg-Schwerin; † 7. November 1906 in Berlin

Das sind die Kleinigkeiten: geboren in Perlin - gestorben in Berlin. Seidel war nicht nur Dichter, sondern im Hauptberuf Ingenieur. Lesen Sie selbst bei Gutenberg.Spiegel.de und bei Wikipedia mehr zu dem Dichter.
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