Dienstag, 28. Dezember 2004

Die Kunst des Schüttelreimens

Poetischer Unterrichtsbrief (Gratis-Ergänzungsbrief)
von
Theophil Ballheim,

Inhaber einer literarisch-poetischen Lehranstalt, Mitglied mehrerer lit.-poet. Gesellschaften. Gr. Med. f. W. u. K. am bb. Bande u.s.w., u.s.w.

"…Das Schüttelreimgedicht. Bereits im XX. Unterrichtsbriefe (Äolsharfe Jahrg. II. Nr. 4) habe ich kurz das Wesen des Schüttelreims (Schling-, Wechsel- oder Kaleidoskopreims) beleuchtet. Da das Schüttelreimgedicht inzwischen durch einen unserer berufensten Lyriker der Jetztzeit, ehemaligen Schüler und nunmehr hochgeschätzten Freund von mir (Herrn Johannes Köhnke, s. Äolsharfenkalender f. 1886 S. 72.) zu epochemachender Bedeutung gelangt ist, auch um den vielfachen Anforderungen ehemaliger Schüler zu genügen, habe ich mich entschlossen, diese schwierige Form der Kunstlyrik hier ganz uneigennützig abzuhandeln, dergestalt, daß diese vielfach als Geheimniß angesehene Kunst nunmehr enthüllt werden soll.

Der Schüttelreim ist, wie gesagt (l. c.), der eigentliche, ursprüngliche und natürliche Reim, da er nicht die Unselbständigkeit und Abhängigkeit anderer Reime in sich schließt. Diese sind stichogame Phonorthographika (s. Brief II), während der Schüttelreim stichoagam ist (s. Brief XX), nicht außer sich den Gleichklang sucht, sondern in sich und an sich phonorthographische Befriedigung findet. Das wußten die alten Griechen schon: to dorpon (das Abendessen) brachten die mit Brot und Zwiebeln sich begnügenden Griechen mit podron (ein unhöflicher Hauch) in naturgemäße klangreimliche Verbindung. Beiläufig vielleicht der älteste, weil schon vor Homer vorkommende Schüttelreim.

Das geheimnißvolle Weben der Natur, welches der Mensch auch für alle geistigen Gaben dankbar annehmen muß, feiert im Schüttelreime seine Offenbarung. Wenn schon Gellert dem ordinären Reim die Macht zuspricht, Gedanken herbeizuführen und dafür Sonne - Wonne, Liebe - Triebe, Herz - Schmerz u.s.w. anführt, um wieviel berechtigter darf dies vom Schüttelreim gelten, als ihm solche Wohlfeilheit nicht genügt, er die seltensten und seltsamsten Beziehungen, in denen oft überraschende Gedanken und Ideenverbindungen liegen, herbeiführt und, wie Schiller sagt:
"für Dich dichtet und denkt."

"Es bedarf," sagt nicht mit Unrecht Meier-Prenzlau, "mehr des Scharfsinnes, der mit dem Dichten nichts zu thun hat, als der poetischen Anlage, die Gedanken, welche der Schüttelreim gibt, rhythmisch zu koppeln, so daß durch seine Hülfe selbst Diejenigen, welchen die Muse den Kuß spröde versagen will, sich denselben erobern und also zu nützlichen Mitgliedern der Dichtergemeinde herangebildet werden können."

Beispiele. Sonnenwende - Wonnen sende, Klagesang - Sage klang, Wangenpracht - Prangen wacht, Krieg sehnen - Sieg krönen, Weben Lieder - Leben wieder, Feierlichst - Leier fichst.

Kleiden wir die zum Verse gehörigen, fehlenden Worte in Versfüße ein, so entstehen nun daraus folgende Verse:

Daß um die Zeit der Sonnenwende
Der Sommer neue Wonnen sende.
Und wie aus alter Sage klang
Sein schwermutvoller Klagesang.
In rosig zarter Wangen Pracht
Der Unschuld ganzes Prangen wacht.
Die nach gerechtem Krieg sich sehnen,
Sie werden mit dem Sieg sich krönen.
Laß mich, Apollo, leben wieder,
Zu Deinem Ruhm mich weben Lieder.
Wenn Du für Deine Leier fichst,
So thu' es ernst und feierlichst.
…"

Fortsetzung können Sie lesen bei Spiegel Projekt Gutenberg.de.
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