Der Rangstreit der Tiere
"…in vier Fabeln
1.
Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Tieren. Ihn zu schlichten, sprach das Pferd: "Lasset uns den Menschen zu Rate ziehen, er ist keiner von den streitenden Teilen und kann desto unparteiischer sein."
"Aber hat er auch den Verstand dazu?" ließ sich ein Maulwurf hören. "Er braucht wirklich den allerfeinsten, unsere oft tief versteckten Vollkommenheiten zu erkennen."
"Das war sehr weislich erinnert!" sprach der Hamster.
"Jawohl!" rief auch der Igel. "Ich glaube es nimmermehr, daß der Mensch Scharfsichtigkeit genug besitzt."
"Schweigt ihr!" befahl das Pferd. "Wir wissen schon: wer sich auf die Güte seiner Sache am wenigsten zu verlassen hat, ist immer am fertigsten, die Einsicht seines Richters in Zweifel zu ziehen."
2.
Der Mensch ward Richter. - "Noch ein Wort", rief ihm der majestätische Löwe zu, "bevor du den Ausspruch tust! Nach welcher Regel, Mensch, willst du unsern Wert bestimmen?"
"Nach welcher Regel? Nach dem Grade, ohne Zweifel", antwortete der Mensch, "in welchem ihr mir mehr oder weniger nützlich seid."
"Vortrefflich!" versetzte der beleidigte Löwe. "Wie weit würde ich alsdann unter den Esel zu stehen kommen! Du kannst unser Richter nicht sein, Mensch! Verlaß die Versammlung!"
3.
Der Mensch entfernte sich. - "Nun", sprach der höhnische Maulwurf - (und ihm stimmten der Hamster und der Igel wieder bei) - "siehst du, Pferd? Der Löwe meint es auch, daß der Mensch unser Richter nicht sein kann. Der Löwe denkt wie wir."
"Aber aus bessem Gründen als ihr!" sagte der Löwe und warf ihnen einen verächtlichen Blick zu.
4.
Der Löwe fuhr weiter fort: "Der Rangstreit, wenn ich es recht überlege, ist ein nichtswürdiger Streit! Haltet mich für den Vornehmsten oder für den Geringsten; es gilt mir gleichviel. Genug, ich kenne mich!" - Und so ging er aus der Versammlung.
Ihm folgte der weise Elefant, der kühne Tiger, der ernsthafte Bär, der kluge Fuchs, das edle Pferd, kurz, alle, die ihren Wert fühlten oder zu fühlen glaubten.
Die sich am letzten wegbegaben und über die zerrissene Versammlung am meisten murrten, waren - der Affe und der Esel.…"
Heute einmal eine Fabel von Gotthold Ephraim Lessing, dessen Geburtstag sich am 22. Januar zum 276. male jährt.
Diese Geschichte und noch mehr Werke von Lessing lesen Sie bei Gutenberg.Spiegel.de.
1.
Es entstand ein hitziger Rangstreit unter den Tieren. Ihn zu schlichten, sprach das Pferd: "Lasset uns den Menschen zu Rate ziehen, er ist keiner von den streitenden Teilen und kann desto unparteiischer sein."
"Aber hat er auch den Verstand dazu?" ließ sich ein Maulwurf hören. "Er braucht wirklich den allerfeinsten, unsere oft tief versteckten Vollkommenheiten zu erkennen."
"Das war sehr weislich erinnert!" sprach der Hamster.
"Jawohl!" rief auch der Igel. "Ich glaube es nimmermehr, daß der Mensch Scharfsichtigkeit genug besitzt."
"Schweigt ihr!" befahl das Pferd. "Wir wissen schon: wer sich auf die Güte seiner Sache am wenigsten zu verlassen hat, ist immer am fertigsten, die Einsicht seines Richters in Zweifel zu ziehen."
2.
Der Mensch ward Richter. - "Noch ein Wort", rief ihm der majestätische Löwe zu, "bevor du den Ausspruch tust! Nach welcher Regel, Mensch, willst du unsern Wert bestimmen?"
"Nach welcher Regel? Nach dem Grade, ohne Zweifel", antwortete der Mensch, "in welchem ihr mir mehr oder weniger nützlich seid."
"Vortrefflich!" versetzte der beleidigte Löwe. "Wie weit würde ich alsdann unter den Esel zu stehen kommen! Du kannst unser Richter nicht sein, Mensch! Verlaß die Versammlung!"
3.
Der Mensch entfernte sich. - "Nun", sprach der höhnische Maulwurf - (und ihm stimmten der Hamster und der Igel wieder bei) - "siehst du, Pferd? Der Löwe meint es auch, daß der Mensch unser Richter nicht sein kann. Der Löwe denkt wie wir."
"Aber aus bessem Gründen als ihr!" sagte der Löwe und warf ihnen einen verächtlichen Blick zu.
4.
Der Löwe fuhr weiter fort: "Der Rangstreit, wenn ich es recht überlege, ist ein nichtswürdiger Streit! Haltet mich für den Vornehmsten oder für den Geringsten; es gilt mir gleichviel. Genug, ich kenne mich!" - Und so ging er aus der Versammlung.
Ihm folgte der weise Elefant, der kühne Tiger, der ernsthafte Bär, der kluge Fuchs, das edle Pferd, kurz, alle, die ihren Wert fühlten oder zu fühlen glaubten.
Die sich am letzten wegbegaben und über die zerrissene Versammlung am meisten murrten, waren - der Affe und der Esel.…"
Heute einmal eine Fabel von Gotthold Ephraim Lessing, dessen Geburtstag sich am 22. Januar zum 276. male jährt.
Diese Geschichte und noch mehr Werke von Lessing lesen Sie bei Gutenberg.Spiegel.de.
immo de - 17. Jan, 12:30